Kritische Betrachtung

Die Thesen Bacons in Bezug auf Wissenschaft und Politik können nicht unwidersprochen stehengelassen werden. Sie fordern vielmehr Widerspruch und Kritik heraus. Im Folgenden soll auf verschiedenen Ebenen seine Konzeption von Wissenschaft in der Verbindung z ur Politik durchleuchtet und kritisch betrachtet werden.

Die inhaltliche Stringenz seiner Theorien

Das komplexe Wissenschaftssystem, welches Bacon postuliert, hat auch für ihn selbst Tücken. Es macht wenig Sinn alle Unstimmigkeiten hier aufzuzählen. An einigen Stellen widerspricht er sich jedoch auch bei fundamentalen Aussagen. Einige der wichtigeren P roblemfälle sollen im Folgenden dargestellt werden:
 
 

Problemfall 1:

These A: Die Wissenschaft soll neue Wahrheiten entdecken

Bacon stellt in seiner Wissenschaftstheorie deutlich heraus, daß neue Erkenntnisse neues Denken und Handeln bewirken. Insofern seine Wissenschaft zu neuen Wahrheiten führt und die Herrschaft der Erkenntnis über die der Macht des Willens steht, ergeben sich notwendigerweise Umbrüche in allen Bereichen des menschlichen Lebens, also auch in der Gesellschaft. Bacon weist selbst auf die Problematik der Verbindung von neuem Wissen und gesellschaftlicher Strukturen hin.
 

These B: Unruhen müssen vermieden werden

Mehrfach weist Bacon daraufhin, daß Unruhen vermieden werden müssen. Aus diesem Grund unterstützt er den starken Herrscher, der es vermag Unruhen zu verhindern.

These A und B zusammengenommen widersprechen sich jedoch unmittelbar. Folgt man A ergeben sich Unruhen in der Gesellschaft, welche durch neue Erkenntnisse Auftrieb erhalten. Damit wird genau gegen die Forderung B (Unruhen müssen vermieden werden) verstoßen . Auch umgekehrt läßt sich die Forderung A und B nicht vereinen: Möchte man alle Unruhen im Keim ersticken, müßte man die Gesellschaft zu einer statischen Einheit machen. Die „Wissen-schaft“ wäre dann bereits in ihrer eigentlichen Wortbedeutung ein Versto ß gegen die Forderung B.

Entweder ist sich Bacon selbst über den Widerspruch nicht im Klaren oder aber er ignoriert und verdrängt den Widerspruch. Es gibt jedoch noch eine Möglichkeit, welche sich aus seinen Schriften ableiten läßt: Er schränkt die These A dahingehend ein, daß nic ht jeder unbedingt in den Genuß des neuen Wissens kommt. Unterstützung findet die Annahme durch die Tatsache, daß Bacon selbst Teile des „wisdom of state“ als Geheimwissenschaft einstuft. Gerade dieses Wissen sorgt potentiell für politische Unruhen. Gehe imes Wissen kann notwendigerweise nicht zu öffentlichen Unruhen führen, solange es tatsächlich von der Allgemeinheit unerkannt bleibt.

Wenn jedoch die These A so eingeschränkt wird, daß nicht alle wissenschaftliche Erkenntnisse jedem zugänglich sind, dann ergeben sich neue Komplikationen. Bezeichnen wir die modifizierte These A als These A´ .
 

Problemfall 2:

These A´: Die Wissenschaft soll neue Wahrheiten entdecken, aber einiges Wissen darf nur einem gewissen Personenkreis zugänglich gemacht werden

In „Neu-Atlantis“ wird Wissen zunächst immer nur dem Haus Salomons zugänglich gemacht. Erst während einer Beratung der Mitglieder des Haus Salomons wird entschieden, ob das neuerworbene Wissen allgemein publiziert werden soll.
 

These C: Eine freie Forschung soll ungehindert Untersuchungen anstellen

Bacon betont immer wieder, daß er sich gegen jede dogmatische Form von Wissenschaft wehrt. Die Forschung darf nicht durch Autoritäten behindert werden.

Betrachtet ma nun These A´ und These C so erkennt man die zusätzliche Schwierigkeiten, die sich Bacon einhandelt. Der freie Forscher, der soziale Systeme untersucht und zu Ergebnissen kommen kann, welche potentiell für Unruhen sorgen, darf nicht ganz frei sein. Er muß als Wissenschaftler These A´ anerkennen, ohne daß er eine Wahl hat. Im Grunde bedeutet dies, daß eine übergeordnete Instanz die Forschungen immer überwacht. Den „freien“ Forscher, der zu Haus im stillen Kämmerlein neue Entdeckungen macht, gib t es bei Bacon nicht. Das Haus Salomons wird in „Neu-Atlantis“ als eine übergeordnete Instanz eingeführt, der alle Wissenschaftler angehören. Die Forschungstätigkeit ist insofern immer institutionell behindert. Die freie Forschung wird außerdem in „Neu-At l antis“ dadurch eingeschränkt, insofern der Wissenschaftsbetrieb unter Nutzenaspekten arbeitet. Forschungen, welche keinen direkten oder indirekten praktischen Nutzen haben, sollen von den Wissenschaftlern beiseitegelegt werden. Bacon formuliert die prakt is che Verwendbarkeit von Wissen als das „richtige“ Ziel der Wissenschaft.
 

Problemfall 3:

These C: Eine freie Forschung soll ungehindert Untersuchungen anstellen

Eine weitere Inkonsistenz der Baconischen Wissenschaftsidee ergibt sich für das Postulat der freien Forschung.
 

These D: Nur Bacons Methode der eliminierenden Induktion ist die einzig richtige Methode der Wissenschaft

Der absolute Anspruch Bacons den richtigen Weg in der Wissenschaft aufzuzeigen, verweist alle Erkenntnisse, welche durch andere Methoden gewonnen wurden in die Unwissenschaftlichkeit. Abgesehen von der Problematik der Hybris seiner Behauptung, muß Bacon si ch fragen lassen inwiefern Forschung frei ist, wenn die Forschungsmethoden festgezurrt sind. Alle Untersuchungen sind durch die Methode der Induktion bereits vorstrukturiert.

Gegen zwei entscheidende Aspekte der freien Forschung verstößt Bacon somit selbst: Zum Einen zeigt Problemfall 2, daß die freie Forschung durch Veröffentlichungsverbote bedroht ist und der Forscher in eine Institution hineingepreßt wird, zum Anderen weist Problemfall 3 daraufhin, daß bereits die Forschung selbst am Gängelband der induktiven Methode daherkommt.

Es ist geradezu paradox, daß Bacon den eigenen Ruf nach freier Forschung durch seinen Roman „Neu-Atlantis“ (siehe These A´) konterkariert.

Außer den Inkonsistenzen in der Baconischen Vorstellung von Wissenschaft, gibt es ebenfalls Differenzen in den politischen Gedanken und Zukunftsvisionen.

Problemfall 4:

These E: Bensalem ist eine statische Gesellschaft, die sich über 1000 Jahre lang nicht verändert hat

In „Neu-Atlantis“ wird darauf hingewiesen, daß die Gesetze, welche der einstige König Solamona erließ, nach wie vor unverändert gelten und sich die Gesellschaft seitdem nicht mehr verändert habe.

These F: Bensalem ist eine Wissensgesellschaft, welche ständig neue Erkenntnisse produziert

Gleichzeitig stellt Bensalem die Verwirklichung des Baconischen Gedankens dar, wie Wissenschaft institutionalisiert werden sollte. Das Haus Salomons produziert eine Vielzahl neuer Erkenntnisse und erweitert das Wissen der Menschen stetig.

Es stellt sich die Frage, wie es der einstige König Solamona geschafft haben soll Gesetze für die Zukunft zu verfassen, Dinge betreffend von denen er zu seiner Zeit noch gar nicht wissen konnte, da erst später die Wissenschaftler sie erfanden. Eine statis che Gesellschaft für die immerwährende Gesetze gelten, kann nur durch einen Stop der gesellschaftlichen Entwicklung erreicht werden. Die gesellschaftliche Entwicklung wiederum wird, Bacon folgend, durch die Wissenschaft vorangetrieben. Beides zugleich zu h aben - wissenschaftlicher Fortschritt und eine statische Gesellschaft - ist nicht möglich. Die Gesellschaft wird sich ständig verändern. Die Gesetzgebung muß den Veränderungen Rechnung tragen.

Problemfall 5:

These G: Bensalem ist ein Friedensreich, Kriege sind zu vermeiden

In „Neu-Atlantis“ gibt es keine kriegerischen Aktivitäten. Bedingt durch die technologische Überlegenheit ist Bensalem jederzeit in der Lage, jeden möglichen Feind militärisch zu besiegen. Krieg wird jedoch verabscheut. Die Bewohner Bensalems fühlen sich d em Frieden verpflichtet.
 

These H: Krieg ist notwendig zur Ertüchtigung des Staates

In den Essays stellt Bacon die These auf, daß Kriege zur Ertüchtigung des Staates notwendig sind. Andernfalls droht eine Degeneration der Gesellschaft. Hinzukommt, daß Kriege dazu verhelfen den Herrschaftsraum auszudehnen. Krieg ist also ein notwendiges, w ie auch legitimes Mittel der Politik.

Offensichtlich existiert ein klarer Widerspruch von These G und H. Befürwortet Bacon einerseits Krieg als Mittel um die Gesellschaft zu „ertüchtigen“, so lehnt er in „Neu-Atlantis“ Krieg als Form der Auseinandersetzung ab.

Widersprüche und Inkonsistenzen in Bezug auf die politische Deutung der Lehren von Francis Bacon wurden schon früher von anderen Autoren, insbesondere White entdeckt. Er vertritt die Ansicht, daß es bei Bacon eine pragmatische Sicht auf Politik und eine u topische Konzeption einer Gesellschaft gibt. Die Aufsätze des Realpolitikers Bacon ordnet er sogenannten „Provisional Politics“ und die utopischen Ansichten des Philosophen Bacons den „Definitive Politics“ zu
Die Argumentation Whites, daß man zwischen pragmatischen und utopischen Ansichten unterscheiden müsse, kann nachvollzogen werden. Die Ratschläge der Essays bezogen sich primär auf die existierende, realen Probleme der Gesellschaft. Die Vorschläge von „Neu- Atlantis“ zeigen jedoch auf eine utopische, ideale Gesellschaft.

Einige Widersprüche (hier Problemfall 5) können mittels Whites Erklärungsmuster ausgeräumt werden. Nichtsdestoweniger bleibt in der politischen Utopie die Frage ungeklärt, wie eine statische Gesellschaft mit neuen Erkenntnissen umgehen kann (Problemfall 4 ). Noch wichtiger erscheint jedoch, daß die Wissenschaftskonzeption Bacons der Vorstellung einer zukünftigen Gesellschaft in wesentlichen Punkten (Problemfälle 1, 2 und 3) ebenfalls gegenläufig ist. Die Trennung Whites von „Provisional Politics“ und „Defin itive Politics“ reicht daher bei weitem nicht aus.

Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß Bacons Schriften sich in vielen Punkten widersprechen und es sich kein konsistentes Gedankengebäude darauf errichten läßt. Zum Teil liegt die Ursache in der fragmentarischen Darstellung seiner Ansichten und Theori en. Auch hat er wohl einige Thesen (z.B. über Krieg, Religionsfreiheit, etc.) im Laufe seiner politischen Karriere revidiert. Allerdings weisen auch einzelne Werke für sich genommen innere Widersprüche auf.

Die Konzeption seiner politischen Utopie

Neben gewissen Inkonsistenzen (z.B. Problemfall 4) in der Baconischen Vorstellung einer idealen Gesellschaft, erscheint seine politische Utopie inhaltlich noch wesentlich fragwürdiger. Im Roman „Neu-Atlantis“ fällt auf, daß politische Entscheidungsträger u nd Institutionen nur am Rande oder überhaupt nicht erwähnt werden.

Die Wissenschaftsgesellschaft, welche von Bacon dargestellt wird, sucht den Fortschritt der Wissenschaft im Streben nach Barmherzigkeit und Güte. Die allgemeine Interpretation (Mainstream-Ansicht) wird von Box wie folgt zusammengefaßt:

„The New Atlantis seems to describe a society in which the fruits of science and technology have made political rule superfluous.“
 

In der Tat läßt die im Text beschriebene Überflußgesellschaft den Menschen kaum einen Wunsch offen. So scheint es auf den ersten Blick zumindest. Die Gesellschaft regelt sich beinahe von allein. Die enge Bindung der Menschen an die Religion ist die Gewähr für die Stabilität der Gesellschaft. Bacon versucht dem Leser zu suggerieren, daß mit genügend Wissen die soziale Ordnung gesichert werden könne.

Anscheinend glaubt er jedoch selbst nicht so ganz an den idealen Menschen, der sein Wissen immer nur zum Besten der Gesellschaft einsetzt. Weshalb braucht sonst die Gesellschaft Bensalems die Gesetze, die König Solamona einst erließ ?

Durch die Personen, welche in „Neu-Atlantis“ auftreten, weist Bacon den Leser immer wieder darauf hin, welche Freiheiten in Bensalem herrschen. Trotzdem wird ein Grundrecht der Menschen durch Solamona sehr drastisch beschnitten - das Recht auf Freizügigkei t. Ausdrücklich ist es den Menschen von Bensalem verboten in andere Länder zu reisen. Lediglich einigen Wissenschaftlern wird dieses Privileg zuerkannt. Diese Passage sollte jedem Sozialwissenschaftler zu denken geben: Es gab und gibt genügend Staaten, di e ähnliche Gesetze erließen um ihren Staat und Bürger vor angeblichen Bedrohungen aus dem Ausland zu schützen.

Die Forscher Bensalems, welche zu wissenschaftlichen Zwecken im Ausland verweilen, dürfen nicht ihre wahre Identität bekennen. Es ist paradox: Der weise, kluge und gütige Herrscher verlangt von einigen seiner Untertanen zu lügen und zu betrügen. Dies ist umso merkwürdiger, als da ja betont wird, daß alle Bürger Bensalems gute Christen seien. Man stelle sich vor: Ein Christ (im Range eines Bischofs) verlangt von einem anderen Christen zu lügen und macht dies sogar zum Gesetz. Es ist nur zu offensichtlich, daß Bacons moralische Integrität hier einem nichtchristlichen Utilitätsgedanken folgt und deutlich an Substanz verliert.

Eine weitere Schwäche der politischen Utopie zeigt die Unterscheidung zwischen Angehörigen des Hauses Salomons und dem Rest der Gesellschaft. Es herrscht in Bensalem Rechtsgleichheit, aber nicht die „Wissensgleichheit“. Das Haus Salomons funktioniert wie e in Staat im Staat. Die Mitglieder der Bruderschaft beanspruchen für sich das Recht nach einer Absprache untereinander Wissen geheimzuhalten. Sie entscheiden, welches Wissen zu publizieren ist. Man muß sich fragen: Mit welchem Recht ? Wer legitimiert sie d azu ? Selbst dem König kann Wissen vorenthalten werden. Die Forschergemeinschaft postuliert ein Recht, welches außerhalb des allgemeinen Rechtssystems unabhängig existiert und weder durch staatliche Institutionen verwaltet (im Sinne einer Judikative), noc h durch diese aufgestellt (im Sinne einer Legislative) oder verändert werden kann. Auch die Kontrolle über die Normen der wissenschaftlichen Gemeinschaft erfolgt durch sie selbst.

Die alte Ständeordnung des Mittelalters existiert in Bacons Utopie nicht mehr. Statt dessen könnte man die neue Gesellschaftsordnung als „Wissensaristokratie“ im Sinne einer Zweiklassengesellschaft der Wissenden und der Unwissenden bezeichnen. Eine funktio nierende Demokratie kann Bensalem schon deswegen nicht sein, da eben nicht alle Bürger des Landes über die Möglichkeiten einer Lösung von politischen Angelegenheiten Kenntnis haben, bzw. erlangen könnten.

Eine Problematik der Baconischen Utopie ist in dem Ausgeliefertsein des einfachen Bürgers dem Wissenschaftler gegenüber zu sehen. Die Problematik existiert heute real in den modernen Industriegesellschaften.

„Die Betroffenen werden in Sachen ihrer eigenen Betroffenheit unzuständig. Sie verlieren ein wesentliches Stück Wissensouveränität.“

Selbiges vollzieht sich schon in Bacons Utopie. Der betroffene Bürger ist nicht in der Lage weder seinen eigenen Status, noch irgendwelche Maßnahmen der Väter des Hauses Salomons zu beurteilen. Er kann nur darauf hoffen, daß die Wissenschaftler die Normen der Gesellschaft anerkennen und ihren Gestaltungsspielraum dazu nutzen den allgemeinen Wertvorstellungen zu folgen.

Bacon geht immer davon aus, daß der Wissenschaftler ein von der Idee des Guten geleiteter Mensch ist und als ein Vorbild an Charakterstärke und Tugend dient. Gemeinsam organisieren die Wissenschaftler das Haus Salomons. Krohn erkennt zu Recht das Haus Salo mons als den archimedischen Punkt der Baconischen Konzeption der Gesellschaft Bensalems. Die Väter des Hauses Salomon bestimmen alle gesellschaftlichen Belange durch ihren Wissensvorsprung. Die entscheidende Frage lautet:

„Was aber sollte das Haus Salomon davon abhalten, die Macht an sich zu reißen und ihren eigenen ausgefächerten Apparat zum Instrument der politischen Herrschaft zu machen ?“

Wie Krohn zutreffend bemerkt wäre es für die Bruderschaft ein Leichtes, die Macht im Land zu übernehmen, da sie bereits sowieso alle relevanten gesellschaftspolitischen Gebiete dominiert. Die Väter des Hauses Salomons reisen im Land umher und bestimmen die Geschicke der Menschen. Sie bestimmen welche Maschinen zu welchen Zwecken gebaut werden. Die wirtschaftliche Existenz, genauso wie die technologische Entwicklung hängt in hohem Maße von den Errungenschaften des Hauses Salomons ab. Technologische Entwicklu ng meint auch Sozialtechnik um Gesellschaft zu steuern oder umzuformen. Bacon vermeidet es darauf hinzudeuten, daß hier Politik im ureigensten Sinne des Wortes betrieben wird. Politische Entscheidungen unterstehen dem Haus Salomons. Es ist kein Wunder, da ß Box keine politischen Institutionen auf Bensalem bemerkt. Sie finden sich konzentriert und versteckt im Haus Salomons erst wieder. Bacons vertritt die Ansicht, daß eine zentrale, starke Institution notwendig ist, um Unruhen im Land zu vermeiden. Das Haus Salomons ist diese Institution. Bensalem ist daher auch keine herrschaftsfreie Gesellschaft, sondern ein Staat dessen herrschenden Eliten, seine Bürger durch Ruhe und Wohlstand besticht, ohne daß deren Bürger jemals die Möglichkeit bekommen, die tatsächli chen Machtstrukturen zu durchschauen, bzw. sich überhaupt bewußt zu werden, daß Herrschaft ausgeübt wird.

Bacons Utopie hat mit einer Demokratie nicht viel gemeinsam. Das Bürgertum sieht sich zwar befördert, jedoch nur bis zu dem Punkt, wenn es darum geht politische Ansprüche zu stellen. Auch wenn der König auf Bensalem keine besonders wichtige Rolle mehr spielt, so zeigt sich doch daran, daß Bacon dessen bestimmende Funktion nicht einfach an die Bürger abgeben möchte. Hinzu kommt die Einrichtung das Haus Salomons, welches teilweise Aufgaben des Königs übernimmt und viel stärker die Entwicklung der Gesellschaf t beeinflußt. Es bilden sich neue Eliten heraus, welche sich nicht durch ihre Herkunft, sondern durch ihre Verdienste und intellektuellen Fähigkeiten auszeichnen. Neben einer Rechtsgleichheit sieht Bacon hier eine Chancengleichheit vor. Diese Idee hingegen ist sehr modern. Sie entspricht aber auch den Entwicklungen in England mit Beginn der Tudorzeit. Gewissermaßen reflektieren die Gedanken Bacons hier den Stand der gesellschaftlichen Entwicklung Englands zu seiner Zeit. Die wirtschaftliche Freiheit des Bür g ers ist bereits gegeben. Der Zugriff auf das Gut der Privatperson ist selbst dem König qua Recht entzogen. Anders sieht es mit der politischen Freiheit aus: Sowohl im real existierenden Staat (England), wie auch auf Bensalem, ist es nicht die Sache der B ür ger politisch zu entscheiden. Anders ist das Haus Bensalems selbst strukturiert. Es besitzt bereits demokratische Attribute, insofern über neue Technologien gemeinsam entschieden wird. Es drängt sich der Gedanke auf, daß es vielleicht Menschen gibt, die zu r Demokratie „befähigt“ sind und andere Personen, welche intellektuell nicht in der Lage sind mit demokratischen Formen umzugehen. Bacon formuliert dies nie explizit. Berücksichtigt man, daß er ja auch Staatswissenschaft im Sinne von Sozialtechnik einsetzen möchte, so läßt sich die vorangegangene jedoch These stützen, daß Demokratie nicht für jeden zu handhaben ist. Ohne einen gewissen Intellekt kann die Wissenschaft nicht verstanden werden. Ist jedoch Demokratie eine Ausformung wissenschaftlicher Theorien, dann wäre dem einfachen (“etwas weniger intelligenten“) Bürger der Zugang verschlossen. Auch das antike Demokratieverständnis, welches Bacon sicherlich kannte, deckt sich nicht mit der modernen Ausprägung der Neuzeit, insofern z.B. Frauen von politis chen Entscheidungen gänzlich ausgeschlossen waren. Wenn überhaupt, so wäre Bacon eher ein Anhänger der antiken Vorstellung von Demokratie gewesen.
 
 Der Begriff der Freiheit ist für Bensalems Gesellschaft besonders problematisch. Die Freizügigkeit hört bereits an der Küste Bensalems auf. Widerstandsrechte finden sich nirgends thematisiert. Alle Belange werden von wissenschaftlichen bzw. verwaltungstech nischen Einrichtungen geprüft und entschieden.

Zumindest die Forschung soll frei sein. Diese Forderung stammt von Bacon selbst. Es stellt sich in der Baconischen Wissenschaftskonzeption die Frage wie frei Wissenschaft tatsächlich sein darf. Die geforderten einheitlichen wissenschaftlichen Methoden, wie auch die nutzenmaximierende Zielsetzung der Wissenschaft begrenzen die Freiheit der Forschung drastisch. Nach der Vorstellung Bacons gibt es keinen Wissenschaftler, der für sich alleine forscht, sondern Institute, an denen geforscht wird. Da jedes Institu t eine Leitung besitzt, ist es schon sehr unwahrscheinlich, daß die Forscher unbehelligt von ihrer Institutsleitung, nur ihren eigenen Vorstellungen verpflichtet, Untersuchungen anstellen können. Bacon schreibt in Briefen und Aufsätzen, daß er gerne ein I n stitutsleiter wäre, um die Wissenschaft in seinem Sinne voranzubringen, ihm jedoch die Mittel dafür fehlen würden. Es drängt sich der Verdacht auf, daß Bacon in erster Linie die Freiheit seiner eigenen Interessen vertritt.
Interessant ist auch die folgende These Lenks zum Programm einer einheitlichen, universellen Wissenschaft:

„Solange die menschlichen Gesellschaften - und dies gilt auch für die sozialistischen - in sich widerspruchsvolle Gesellschaften sind, wird sich eine allseitige Konformität der Wissenschaftskonzeption nur unter Gewaltanwendung herstellen lassen.“

Da Lenk alle existierenden wie auch zukünftigen Gesellschaften für widersprüchlich hält, bedeutet die These faktisch, daß es keine Einheitswissenschaft ohne Gewaltanwendung im Sinne struktureller Gewalt geben kann. Dies hieße für Bacons Wissenschaftskonzep tion ebenfalls das Mittel der Gewalt akzeptieren zu müssen, vorausgesetzt es gäbe Widersprüche in der Gesellschaft. Jedoch wäre dann die vielbeschworene Freiheit der Wissenschaft ad absurdum geführt. Die andere Alternative, welche Lenk als pure Fiktion si e ht, heißt eine harmonische Gesellschaft zu haben, in der es keinerlei Dissonanzen gibt. Nur dann wäre theoretisch der Gewaltverzicht möglich.
 
 Inhaltlich fragwürdig erscheint auch die Doppelfunktion des Forschers als Wissenschaftler und Priester. Als Letzterem werden dem Forscher die göttlichen Wahrheiten geoffenbart. Der Forscher, wie ihn Bacon beschreibt, verfügt über das das Wissen von dem Se ienden, wie auch über das Wissen des zu Sollenden. Es ist merkwürdig, daß Bacon diese Doppelfunktion wie sie aus dem Mittelalter bekannt ist, beibehalten hat, da ja gerade die Vermengung von menschlichem und göttlichem Wissen vermieden werden sollte. So l äuft auch er Gefahr, daß die institutionalisierte Form von Wissenschaft dogmatisch Entscheidungen trifft. Bacon scheint der Ansicht zu sein, daß „seinen“ Wissenschaftlern so etwas nicht passieren kann.
 
 Den Menschen auf Bensalem geht es materiell sehr gut. Dieser Festlegung kann nicht widersprochen werden. Der Preis, den sie dafür zu zahlen haben, ist hoch. Abstriche bei Grundrechten werden vorgenommen. Das Leben verläuft von Geburt an in geregelten Bahne n. Individuelle Präferenzen finden keinen Raum. Mit einem Wort: Bensalem ist ein großer, goldener Käfig.

Sicherlich würde den Menschen des 16. und 17. Jahrhunderts Bensalem als ein Paradies erscheinen. Es ist jedoch fraglich ob die Menschen im Baconischen Paradies glücklich und zufrieden wären. Wie aber schon in der Bibel berichtet wird, genügte nicht einmal Adam und Eva das Leben im ursprünglichen Paradies ihren Ansprüchen. Die einzige Beschränkung, die es für sie gab, hieß die Frucht der Erkenntnis nicht essen zu dürfen. In Bacons Paradies Bensalem wird gerade diese Beschränkung zu Lasten anderer Freiheitsre chte aufgehoben. Hat sich der Baconische Menschentypus so sehr verändert, daß ihm die Beschneidung seiner fundamentaler Rechte nichts ausmacht ?

Die Normenordnung

Die ethischen Ansprüche an die Menschen auf Bensalem sind hoch. Der ideale Mensch ist eine Konstruktion, die sich im Wesentlichen auf die christlichen Motive der Güte und Mitmenschlichkeit stützt. Dieser Mensch zeichnet sich vor allem dadurch aus, daß er „ am ersten nach dem Reich Gottes trachtet“. Verbunden mit dem Wissen um das „richtige“ Sollen, ist das Know-How das Gewollte auch umsetzen zu können. Um mit den Worten Brandts zu sprechen:

„Mit Bacons Programm gewinnt nach der Intention des Autors die christliche Trinität von Weisheit, Macht und Güte ihre irdische Wirklichkeit in Gestalt des Wissens, der Macht über die Natur und der durch die sapienta-potentia realisierbaren Philantropie.“
 
 Ethische Grundsätze werden mit Handlungswissen in der Baconischen Sichtweise eng vermischt. Das ist nicht weiter verwunderlich, da eine scharfe Trennung des Wissens in einen normativen und einen deskriptiven Bereich erst mit Beginn des 18. Jahrhunderts vo llzogen wurde.

Normen und moralische Ansichten entziehen sich grundsätzlich jeder Bewertung. Problematisch werden ethische Ansichten dann, wenn sie als allgemeinverbindlich für eine Gesellschaft gelten wollen. Der Wissenschaftler ist in Bacons Vorstellung durchdrungen v o n dem Gedanken der Güte und verwirklicht diese Gedanken, genau wie es Brandt prägnant beschreibt, durch die realisierten Möglichkeiten des Wissens. Auf Bensalem herrschte Religionsfreiheit - zumindest für die Juden. Die Frage, inwiefern andere Religionen e benfalls toleriert werden, bleibt offen. Bacon betont, daß die Juden auf Bensalem eine unterschiedliche Auffassung von ihrem Glauben haben als die anderen, europäischen Juden. Die Juden auf Bensalem haben sich so sehr den Christen angepaßt, so daß sich ihr Glaube als eine christianisierte Version des Judentums darstellt. Auch in ihren Augen sind Güte und Mitmenschlichkeit oberste Ziele, welche erstrebenswert sind. Insofern besitzt Bensalem eine einheitliche, normative Ordnung, welche trotz unterschiedlic he r Religionszugehörigkeit als funktionale Wertebasis ein reibungsloses Zusammenleben erlaubt. Erst die normative Ordnung räumt die möglichen Differenzen zwischen den einfachen, unwissenden Bürgern und den Mitgliedern des Hauses Salomons aus. Die gemeinsame Wertebasis muß in Bacons Konstruktion seiner politischen Utopie dafür garantieren, daß die Bruderschaft, welche ja sämtliche Möglichkeiten der Herrschaftsausübung besitzt, keinerlei Gedanken darauf verwendet, die Macht an sich zu reißen und der Gesellsc haft ihre Vorstellungen von Recht diktieren zu wollen. Der mehrfache Hinweis Bacons, wie sehr sich die gesamte Gesellschaft dem christlichen Glauben unterordnet und dem Idealbild des Königs Solamonas nacheifert, möchte zeigen, daß Krisen innerhalb des Gesellschaftssystems unmöglich sind.
 
 Es bleibt jedoch fraglich inwiefern eine bestimmte Ethik für einen Staat und dessen Bürger verbindlich gemacht werden kann. Begreift man den Menschen als selbständige Person, welche als Individuum darüber entscheidet, welche Werte und Normen akzeptiert, bz w. abgelehnt werden, dann muß man Bacons Utopie als reine Fiktion auffassen. Der erste Egoist, der die Werte der Mitmenschlichkeit und Güte negiert, würde die Harmonie der Gesellschaft Bensalems stören. Wäre dieser Egoist auch noch Mitglied des Hauses Sal o mons, dann wäre der Weg zu einer Diktatur nicht mehr weit. Er könnte nur zu leicht die herausragende Stellung der Bruderschaft für seine persönlichen Ziele mißbrauchen.
 
Die ethische Konzeption Bacon steht über Bacons Konzeption der Gesellschaft und stellt die Harmonie der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen her und steuert sie. Die gesamte Baconische Konstruktion von Neu-Atlantis kann ohne diesen Zusammenhang nicht n achvollzogen werden. Das gegebene Wertesystem spannt den Rahmen auf, in dem sich die Gesellschaft Bensalems bewegt. Teil der Gesellschaft ist das Haus Salomons, welches ebenfalls durch diese Normenordnung gesteuert wird. Dem Haus Salomons kommt es außerdem zu, auf Bensalems Gesellschaft Einfluß zu nehmen. Das Wertesystem hingegen bleibt unangetastet.

Bensalems Struktur
Die obige Darstellung soll die Steuerungsfunktionen der normativen Ordnung verdeutlichen. Ohne den Rahmen einer christlichen Ethik, welche alle gesellschaftlichen Gruppen des Staates harmonisiert, wäre Bacons theoretische Konstruktion gänzlich unmöglich. I n der hier beschriebenen Form ist die Konstruktion zwar möglich, aber als realisierte Praxis sehr unwahrscheinlich.

Die Umsetzung von Theorie und Praxis bei Bacon

Im letzten Abschnitt wurde erläutert, daß die Konstruktion der Gesellschaft Bensalems als gelebte Praxis kaum realisierbar erscheint. Gibt es vielleicht gute Gründe anzunehmen, daß Bacon die Realisierung seiner Utopie für praktikabel gehalten hätte, bzw. v ersuchte er vielleicht Teilaspekte davon umzusetzen ?

Man kann der Ansicht sein, daß es unerheblich für eine Theorie ist, inwieweit der Begründer derselben seine eigenen Theorien in die Praxis umgesetzt hat. Bacon insistierte darauf, daß gerade auch die Praxis für die wissenschaftliche Theorien von Relevanz s ei. Insofern ist es also gerechtfertigt ihn an seinen eigenen Zielen zu messen und dahingehend seine Karriere als Wissenschaftler und Staatsmann zu durchleuchten.

Es gibt in der Ideengeschichte nur selten den Fall, daß ein Politiker gleichzeitig auch politische Utopien entwickelt. In Bacons Schriften eingebettet finden sich viele praktische Handlungsanweisungen. Eine Vielzahl der Ratschläge hatte Bacon schon vor se iner politischen Karriere niedergeschrieben. Er selbst möchte als Vorbild für nachfolgende Generationen dienen. Er gibt allen Menschen und auch sich den Ratschlag:

„Mache es dir auch zur Aufgabe, ebenso mit guten Beispielen voranzugehen wie anderen zu folgen.“

Bacons Weisheiten klingen sehr positiv. So schreibt Bacon in den Essays:

„Führe also Verbesserungen ein ohne Selbstbeweihräucherung und Schmähung früher Zeiten und Menschen.“

Leider verstößt Bacon gegen die eigene Forderung in eklatanter Weise. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit dient er sich dem König an. Er beschimpft die Mehrzahl der antiken Philosophen als Sophisten und bezeichnet Aristoteles gar als den Anti-Christ.
 
Ein einzelner Verstoß gegen die ureigensten Forderungen Bacons wäre noch akzeptabel. Jedoch lassen sich die Verstöße gegen die eigenen Normen beinahe beliebig fortsetzen:

  • Maßlosigkeit- Bacon ist ständig in Geldnöten, da er den Luxus liebt
  • Bestechlichkeit - Bacon wird aufgrund der Annahme von Bestechungsgelder seines Amtes enthoben
  • Verrat der Freundschaft - Bacon verfaßt die Anklageschrift gegen Essex, worauf Essex gehenkt wird
  • Zweckehe - Bacon heiratet nur des Geldes wegen und verbessert so seine finanzielle Situation
  • Neid - Bacon versucht Amtspersonen aus übergeordneten, politischen Ämtern zu verdrängen, um in der eigenen Karriere selbst weiterzukommen

Vielfach wird argumentiert, daß Bacon ein Kind seiner Zeit gewesen sei und deswegen sich lediglich zeitgemäß verhielt. Für Politiker in hohen Ämtern war es ganz normal Geschenke anzunehmen. Vielfach versicherten sich Untergebene dadurch nur deren Wohlwolle n. Heirat zwecks des Geldes war normal und die Tatsache, daß Bacon die Anklage gegen seinen Freund Essex vertrat, wird als notwendige Maßnahme deklariert um den eigenen Kopf zu retten. Alle diese Gegeneinwände haben eine Schwäche: Sie erklären Bacons Verh altensweise zwar sehr gut, können aber die Differenz zwischen Bacons moralischen Ansprüchen, wie sie in „Neu-Atlantis“ formuliert werden und seinem Verhalten nicht überbrücken.
 
Ohne Zweifel tritt uns hier ein Bacon entgegen, der in keinster Weise zu „Neu-Atlantis“ gepaßt hätte. Er wäre wohl der erste Fall einer Ausbürgerung geworden. Es zeigt, daß für seine politische Utopie er nicht einmal bei sich selbst auf empirische Belege f ür den idealen Menschen zurückgreifen konnte. Die Gestalten seiner Utopie sind reine Fiktion. Letztlich verstößt er gegen sein eigenes Wissenschaftsprogramm, indem er ohne empirische Grundlagen reine Spekulationen über eine utopische Gesellschaftsform ent w ickelt. Man mag einwenden, daß eine Utopie immer spekulativ ist. Bacon hingegen dachte sich „Neu-Atlantis“ nicht nur als Fiktion, sondern als Modell für die Zukunft. Aus der heutigen Perspektive wissen wir, daß Bensalem eine Fiktion bleiben wird und „Neu -A tlantis“ eine Utopie bleiben muß. Das Tragische an der Person Bacons ist, daß er sich selbst den Widerspruch zwischen Schein und Sein niemals eingestanden hat. Er selbst begeht den Fehler, den er den anderen Philosophen zuschreibt - nämlich die eigenen Unz ulänglichkeiten zu übersehen oder zu kaschieren. Nichtsdestoweniger gab er den entscheidenden Impuls zum Projekt der modernen Naturwissenschaft. Die positiven, wie auch die negativen Folgen der Forschung waren schon in „Neu-Atlantis“ vorgezeichnet.